Berlin Boredom

Hauptstadt-Kolumne von Simone de Coupe

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4 | Das Berlin Gefühl

Erstveröffentlichung in Kiezkieker #34 vom 12.05.2013

9.11.1989, Berlin. Geknechtete und ausgehungerte Ostbürger schleppen ihre ausgemergelten Körper mit letzter Kraft unter den geöffneten Schlagbäumen hindurch und fallen direkt hinter der Staatengrenze in die hilfsbereiten Arme ihrer Westberliner Nachbarn, die sie mit Milka-Schokolade, Bifi und Fanta notversorgen. Dreifach gefederte Fahrzeuge mit elektrischen Scheibenhebern warten mit laufendem Viertaktmotor, um die körperlich und geistig gebrochenen Menschen zur Stabilisierung ins nächste Einkaufszentrum zu transportieren, wo gut ausgebildete Verkäufer und Verkäuferinnen bis zur Erschöpfung arbeiten, um die leeren Existenzen mit Inhalt zu füllen. An den Grenzübergängen stehen Männer mit geschmacklosen Frisuren in zitronenfarbenen Leinensackos, die irgendwann später mal die Sportschau moderieren werden, und heulen in ihr Mikrofon, dass dies der schönste Tag in ihrem Leben sei, während sie an ihren ersten Samenerguss denken. „Wir geben keinen auf“, sagt der Bundeskanzler, aber einige sind nicht zu retten. Sie kehren mit batteriebetriebenen Kassettenrekordern, mit Schallplatten von Peter Maffay und CC Catch, mit Nutella und Eduscho Kaffee in ihre verrotteten Ostwohnungen zurück, aber sie spüren nichts. Sie sehen durch die verrußten, einfach verglasten Scheiben ihrer Bretterbuden, wie Abrissbirnen und Bagger heran fahren und Männer in Anzügen mit zu breiten Schulterpolstern sich Plastiktüten über ihre italienischen Lederschuhe ziehen, bevor sie mit einem überdimensionalen Faltplan in der Hand auf den matschigen Boden treten, auf dem sie schon bald ein hässliches Gebäude errichten werden. Sie beobachten, schmecken, riechen ihn täglich, den neuen Geist der neuen Zeit. Aber sie spüren nichts. Und doch wollen das Fernsehen und das Radio, die Zeitungen und die Musiker und Schriftsteller nicht damit aufhören ihnen einzureden, dass sie ganz neue Menschen sind.

 

Im Jahr 2013 kann der Prozess als abgeschlossen betrachtet werden. Der Osten ist verschwunden und nur noch wenige auf Hochglanz polierte Denkmäler wurden als Spuren für Touristen zurück gelassen. Im Sommer ist der Berliner Alexanderplatz, einst das Prunkstück der DDR, nur noch eine hässliche Wüste aus Beton, in der unvorteilhaft gekleidete Menschen mit Adipositas nach der nächsten Eisdiele suchen. Aber dennoch wird er beschworen, der Berliner Geist. Der Flair jener Tage, der aus den Gebäuden und den Menschen, den Kreuzungen und Straßenbahnwaggons strömt. Ich spüre ihn nicht. Ich bin irgendwie derselbe, nur das Drumherum ist anders. Da ist nur ein Haufen Menschen, der ziellos durch die Stadt irrt und probiert, ein Gefühl zu fotografieren, das es nicht gibt. Da niemand gerne enttäuscht aus dem Urlaub nach Hause kommt, reden die Menschen sich irgendwann ein, dass sie es genau jetzt gefühlt haben. Eben gerade zwischen dem Dunkin' Donuts und der Straßenbahnhaltestelle hat es sie übermannt, mitten auf dem Zebrastreifen. Erst hatten sie Angst, aber dann haben sie es einfach zugelassen, und jetzt fühlen sie sich freier. Es macht unverwundbar und gleichzeitig fühlt es sich so verletzlich an. Es ist wie Kuschelsex auf dem Nagelbrett, wie ein Klumpen Trockeneis, den man ins Lagerfeuer wirft. Es ballert wie Crystal Meth, ohne dass man direkt die Zähne verliert.

 

Kommen Sie nach Berlin, allein die Meldebestätigung riecht nach purem Abenteuer. Kommen Sie nach Berlin, und ohne es zu wollen wissen Sie bereits nach wenigen Tagen, ob beim Latte Macchiato zuerst die Milch und dann der Kaffee kommt, oder umgekehrt. Berlin, das ist keine Stadt, es ist wie ein schönes, langes Gedicht von einem berühmten Dichter, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Berlin, das ist Geschichte, überall. Jeder Stein, den Sie sehen, wurde bestimmt mal von einem berühmten Nazi berührt. Lassen Sie sich jeden Tag von berühmten Künstlern erzählen, dass sie ein ganz besonderes Leben führen. Gehen Sie ins Kino und schauen Sie sich einen Film an, der Ihnen zeigt, wie Sie sich in dieser Stadt zu fühlen haben. Vergessen Sie Ihr altes Ich und werden Sie einfach ein neues. Werden Sie überzeugter Teil einer substanzlosen Behauptung. Leben Se Berlin, atmen Sie Berlin, werden Sie Berlin.